Warum ich meinen Lehrstuhl räume

Marius Reiser
Professor für Neues Testament am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Mainz.

Es war einmal eine Institution, die nannte man "Universität". Da zogen viele junge Leute hin, um das zu genießen, was man die "akademische Freiheit" nannte. Sie lasen Bücher, diskutierten und tranken Kaffee. Sie besuchten die Vorlesungen der Professoren oder auch nicht, denn es bestand keine Pflicht dazu. Es gab Übungen und Seminare, bei denen man tunlichst nicht allzu oft fehlen sollte. Man schrieb Seminararbeiten, ab und zu war eine Prüfung zu bestehen und am Ende noch eine Abschlussarbeit zu schreiben. Dann erhielt man eine Urkunde und hatte damit alle Chancen, eine gute Stelle zu erhalten. So vergingen zweihundert Jahre. Da setzte auf einmal ein Unwetter ein, und es hagelte Bestimmungen zur Umstrukturierung sämtlicher Studiengänge. Das Unwetter erhielt den Namen "Bologna" und machte dem schönen Leben schnell ein Ende.

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Aber in Deutschland benutzte man "Bologna" als Vorwand, um den Universitäten endlich etwas zu geben, was erstaunlicherweise ebenfalls mit dem Namen Bolognas verbunden ist: ?die straffe Ordnung einer Lernfabrik?. Das kennzeichnete nach Arno Borst die Universität Bologna im Gegensatz zu der von Paris im Mittelalter. Die neueste Version dieses Ideals schreibt zunächst ein konsekutives Studienmodell vor, bestehend aus einem sechssemestrigen Studium mit dem Abschluss Bachelor und einem viersemestrigen Studium mit dem Abschluss Master.

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Der Kern des deutschen Modells sind die sogenannten Module. Module sind Lehreinheiten, die sich aus bestimmten Lehrveranstaltungen zusammensetzen. Sie müssen in einer festgelegten Reihenfolge angeboten und von den Studierenden absolviert werden. Für das erfolgreiche Absolvieren eines Moduls muss eine Mindestzahl von Leistungspunkten ("Kreditpunkten") erworben werden. Diese Leistungspunkte wiederum werden angesetzt entsprechend dem kalkulierten Zeitaufwand, den Studierende zur Erlernung der Lehrinhalte benötigen. Zeigt es sich, dass die Studierenden das Verlangte in der angesetzten Zeit nicht bewältigen können, sollen die Dozierenden ihren Lehrstoff reduzieren. Denn die Studierenden sollen keinesfalls mehr als 1800 Stunden pro Jahr lernen müssen, was etwa einer 32- bis 40-Stunden-Woche bei sechs Wochen Jahresurlaub entspricht.

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Feuer ist gut gegen Mäuse
Auch die Theologie hört auf, Wissenschaft zu sein, wenn sie nur noch als Mittel zum Zweck des Religionsunterrichts und der Predigt gelehrt wird. Und Newman ist der Überzeugung: „Ohne Selbstbestimmung und Unabhängigkeit kann kein großes oder lebendiges Werk gelingen.“ Deshalb sollten an seiner Universität sowohl der Intellekt wie die Religion größtmögliche Freiheit genießen.
Humboldt und Newman waren sich in den Grundsätzen einig. Jetzt haben sich in Deutschland Kirche und Welt zusammengetan, um in allem das Gegenteil dieser Prinzipien zur Herrschaft zu bringen. Ziel der Universitätsausbildung auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern soll nicht mehr vorrangig die Ausbildung der geistigen und intellektuellen Fähigkeiten sein, sondern Indoktrination und das Eintrichtern von Wissen. Das geht natürlich nur bei gleichzeitiger Abschaffung der akademischen Freiheit. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht zwar etwas von Freiheit der Lehre (von Forschung wollen wir hier gar nicht reden), aber Juristen werden uns zweifellos beweisen, dass damit nicht das gemeint sein könne, was wir bisher hatten, und dass mit dem Restchen Freiheit, das den Professoren gelassen wird, dem Buchstaben des Gesetzes vollkommen Genüge getan sei.
Ein Motiv bei vielen Befürwortern der strikten Modularisierung des Studiums ist zweifellos der Missmut über das, was in unserem einleitenden Märchen mit leichter Ironie „das schöne Leben“ unter den alten Verhältnissen genannt wurde. Es ist bekannt, dass akademische Freiheit auch missbraucht wurde als Deckmantel für Schlendrian, Bequemlichkeit und dolce far niente. In einer menschlichen Herde gibt es immer ein paar schwarze Schafe. Aber: abusus non tollit usum. Der Missbrauch einer Sache ist kein Einwand gegen sie selbst. Oder geht es hier nach dem Prinzip jenes Bauern, der sagte: „Das ist gut gegen Mäuse“ und seine Scheune anzündete?
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Berufen heißt nicht rekrutiert
Irgendwie erinnern die Vorgänge an unseren Universitäten an das, was im 23. Kapitel des Matthäusevangeliums den Pharisäern zum Vorwurf gemacht wird: Sie sieben Mücken aus und verschlucken Kamele; sie reden nur, tun aber selbst nicht, was sie sagen; sie schnüren schwere Lasten zusammen und erlegen sie den Studierenden auf, um dann zu versichern, dass sie aus Liebe zu ebendiesen Studierenden das schwere Joch des neuen Systems tragen wollen. Nur diese Haltung macht es möglich, dass die Universität sang- und klanglos ihrer Selbstauflösung entgegenarbeitet. In meiner Schulzeit haben Kirche und Welt einstimmig verkündet, Freiheit sei ein hohes Gut, für das man, wo es gefährdet ist, kämpfen müsse und Opfer bringen.
Da niemand mit mir kämpfen will, bleibt mir nur das Opfer. Ich bin nicht „rekrutiert“, sondern berufen worden. Die wichtigste Voraussetzung für meine Berufung aber ist mit dem neuen System in meinen Augen nicht mehr gegeben. Deshalb habe ich die Entlassung aus dem Dienst beantragt.

Quelle & kompletter Text: FAZ

Marius Reiser ist seit 1991 Professor für Neues Testament am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Mainz. Zum Ende des laufenden Wintersemesters legt er diese Professur aus Widerstand gegen die unter dem Titel "Bologna-Prozess" betriebene und ihm als unerträglich erscheinende Hochschulreform nieder. Wir drucken seine Begründung für diesen ungewöhnlichen Schritt. Hilfreich dabei zu wissen: Reiser ist Jahrgang 1954, steht also keineswegs kurz vor seiner Emeritierung. Hier nimmt also ein Universitätslehrer die Kosten seiner inneren Überzeugung ganz auf sich. Von seiner Universität und dem rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministerium hat Reiser auf sein Demissionsschreiben bislang keine Antwort erhalten. (20.01.2009)


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