Pynchon Thomas: Schattennummer

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Pynchon Thomas: Schattennummer

Mit Schattennummer hat der große US-amerikanische Romancier Thomas Pynchon – längst eine mythische Figur der Weltliteratur – im hohen Alter noch einmal ein Werk vorgelegt, das alles enthält, was seine Leserinnen und Leser an ihm lieben: Witz, Rätsel, Anspielungen und eine unerschöpfliche Fabulierlust. Der Roman ist zugleich leichter und zugänglicher als seine monumentalen Klassiker, bleibt aber in Sprache, Struktur und Tiefe unverkennbar Pynchon – ein literarisches Alterswerk von seltener Lebendigkeit und erstaunlicher geistiger Frische.

Ein Detektiv im Mahlstrom der Geschichte

Die Handlung beginnt 1932 in Milwaukee – die USA befinden sich in der Großen Depression, Al Capone sitzt im Gefängnis, die Prohibition steht kurz vor ihrer Aufhebung. Privatdetektiv Hicks McTaggart erhält den Auftrag, eine entlaufene Erbin aufzuspüren. Doch aus dem Routinefall wird eine abgründige Odyssee: Sie führt über den Atlantik, auf einen Ozeandampfer und schließlich bis nach Ungarn – in eine Welt voller Spione, Musiker, Okkultisten und zwielichtiger Gestalten.

Der Roman entfaltet sich als rasantes Spiel mit Genres: Kriminalroman, Spionagestory, Groteske, Satire – alles verschränkt sich zu einer „Schattennummer“, in der sich Realität und Fiktion, Geschichte und Mythos, Tanz und Tod in schwindelerregender Bewegung begegnen. Das „Lindy-Hop“-Motiv – das tänzerische Leitmotiv des Romans – steht dabei symbolisch für Pynchons gesamtes Erzählen: rhythmisch, fließend, stets am Rand des Chaos und doch von einer geheimen Ordnung getragen.

Stilistische Brillanz und postmoderne Tiefenschärfe

Wie immer bei Pynchon ist Schattennummer ein sprachliches Feuerwerk. Kaum ein anderer Autor beherrscht die Kunst, das Banale mit philosophischer Schärfe und das Groteske mit existenzieller Tiefe zu verbinden. Jeder Satz wirkt wie eine improvisierte Jazz-Phrase, in der sich Ernst und Ironie, Erkenntnis und Spiel durchdringen.

Pynchons Stil ist – wie Kritiker treffend bemerkt haben – „so beängstigend wie berauschend“: ein literarischer Taumel zwischen Reflexion und Rasanz, zwischen Historie und Halluzination. Die Übersetzung von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren, die Pynchon seit Jahrzehnten kongenial ins Deutsche übertragen, fängt diese sprachliche Musikalität und den eigenwilligen Rhythmus perfekt ein.

Philosophische und theologische Tiefendimension

Hinter aller erzählerischen Leichtigkeit bleibt Pynchon ein metaphysischer Schriftsteller. Schon in früheren Romanen wie Gravity’s Rainbow oder Die Enden der Parabel beschäftigte ihn die Frage nach Schuld, Vorsehung und der verborgenen Ordnung des Chaos. Auch in Schattennummer wird deutlich: Die Welt ist Bühne und Schleier zugleich – eine Wirklichkeit voller Zeichen, die auf Transzendenz verweisen, ohne sie je ganz fassen zu können.

Der Roman spielt mit der Idee, dass hinter den sichtbaren Mächten – Nazis, Agenten, Spione – eine „Schattenordnung“ steht, die an biblische und gnostische Bilder erinnert: Licht und Dunkel, Erkenntnis und Täuschung, Freiheit und Determination. Theologisch ließe sich sagen: Pynchon schreibt über den Menschen als Geschöpf im Exil, auf der Suche nach Sinn in einer entzauberten Welt. Das Tanzen – jenes wiederkehrende Motiv – wird so zu einer Chiffre für Hoffnung und Erlösung: Bewegung trotz Schwere, Rhythmus im Chaos.

Pynchon – der große Unsichtbare

Seit seinem Debüt V. (1963) gilt Thomas Pynchon als einer der bedeutendsten Vertreter der Postmoderne. Er lebt zurückgezogen, meidet die Öffentlichkeit und hat dennoch Generationen von Autorinnen und Autoren beeinflusst. Seine Romane sind literarische Labyrinthe, durchzogen von Physik, Philosophie, Popkultur und Theologie. Pynchon verbindet wie kaum ein anderer den amerikanischen Roman mit den großen Fragen des Daseins.

Mit Schattennummer zeigt der mittlerweile 88-Jährige, dass seine Kunst ungebrochen ist – verspielt und tiefgründig zugleich. Wer sich auf diesen Roman einlässt, findet nicht nur ein erzählerisches Abenteuer, sondern auch eine subtile Reflexion über Geschichte, Schuld und die Möglichkeit von Gnade in einer zerrissenen Welt.

Fazit

Schattennummer ist ein glänzendes Alterswerk, ein Tanz auf dem Vulkan der Geschichte – voll Humor, Absurdität und melancholischer Schönheit. Der Roman ist leichter zugänglich als frühere Werke und dennoch voller Rätsel und geistiger Spannung.

Ein Buch für alle, die sich literarisch fordern und zugleich verzaubern lassen wollen – und für jene, die ahnen, dass zwischen Jazz, Chaos und göttlicher Gnade manchmal nur ein halber Takt liegt.


Thomas Pynchon
Schattennummer
Übersetzt von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren

ISBN 978-3-498-00822-2
400 Seiten
gebunden 26,00 €
E-Book 22,99 €

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