Pilgern – Mehr als spirituelles Wandern

Pilgern
Mehr als Wandern mit spirituellem Tiefgang
Wenn die Tage länger werden und die Temperaturen milder, zieht es viele Menschen hinaus in die Natur – zum Wandern, zum Abschalten, zum Aufatmen. Doch es gibt eine besondere Art des Unterwegsseins, die weit über das Wandern hinausgeht: das Pilgern. Es ist eine spirituelle Praxis, die in vielen Religionen verwurzelt ist und für Menschen aller Kulturen eine tiefe Bedeutung hat.
Ursprünge des Pilgerns
Das Pilgern ist so alt wie die Religion selbst. Bereits im Alten Testament finden sich Hinweise auf heilige Wege – das Volk Israel zieht zum Tempel nach Jerusalem, die Psalmen sprechen vom „Weg nach Zion“ (Psalm 84). Im Christentum entwickelte sich das Pilgern früh als Ausdruck der Nachfolge Christi: „Ich bin der Weg“ (Johannes 14,6) – das Gehen wird zum Symbol für den geistlichen Lebensweg.
Im Mittelalter erreichte das Pilgern einen Höhepunkt: Rom, Santiago de Compostela, Jerusalem – dies waren die großen Ziele. Wer sich auf den Weg machte, suchte Buße, Heilung, eine tiefere Gottesbeziehung oder schlichtweg ein neues Leben. Die Pilgerfahrt wurde zum Sinnbild der Suche nach dem himmlischen Jerusalem, der ewigen Heimat bei Gott.
Der reformatorische Einschnitt: Warum Luther nichts vom Pilgern hielt
Mit der Reformation im 16. Jahrhundert änderte sich der Blick auf das Pilgern grundlegend – vor allem in den protestantischen Kirchen. Martin Luther lehnte das mittelalterliche Pilgerwesen entschieden ab. Für ihn war es Ausdruck eines falschen Verständnisses von Frömmigkeit: Pilgerreisen erschienen ihm als Werkfrömmigkeit, mit der sich Menschen vermeintlich das Heil „erarbeiten“ wollten – ein Konzept, das dem reformatorischen Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Gnade („sola gratia“) widersprach.
Luther hielt wenig von äußeren religiösen Leistungen, wenn sie nicht von einer inneren Haltung des Glaubens getragen waren. In einer Predigt von 1516 sagt er: „Die Leute laufen dahin und dorthin, aber der rechte Weg zu Gott ist der Glaube“. Der Reformator forderte daher: Nicht der weite Weg nach Santiago, sondern der Glaube im eigenen Herzen führt zu Gott.
Diese Haltung führte dazu, dass das Pilgern in evangelischen Regionen nahezu verschwand. Kirchen und Klöster, die früher Pilgerorte waren, verloren ihre Funktion – das spirituelle Gehen wurde fast ausschließlich der katholischen Tradition überlassen.
Neue Wege: Die Wiederentdeckung des Pilgerns im Protestantismus
Erst im 20. Jahrhundert – und verstärkt seit den 1990er Jahren – entdeckten evangelische Christen das Pilgern wieder neu. Doch diesmal mit einem anderen Fokus: Nicht als Bußgang oder Wallfahrt zu heiligen Reliquien, sondern als Weg zur inneren Einkehr, zur spirituellen Selbstbesinnung.
Pilgern heute, so betont es die Innere Mission Frankfurt, ist kein frommer Pflichtgang mehr, sondern ein Angebot zur geistlichen Orientierung. Es ist ein bewusstes Innehalten mitten im hektischen Alltag. Ein „Weg in Bewegung“, wie es die protestantische Theologin und Pilgerbegleiterin Ute Engel betont.
Im Zentrum steht nicht mehr ein heiliger Ort, sondern der persönliche Prozess: „Pilgern bedeutet, sich selbst, das Leben und Gott auf eine neue Weise zu begegnen“. So hat sich auch der Sinn des Pilgerns gewandelt – von einem „Werk des Glaubens“ zu einem „Weg des Glaubens“.
Pilgern in anderen Religionen und Kulturen
Doch Pilgern ist keineswegs eine ausschließlich christliche Tradition. Im Islam gehört die Pilgerreise nach Mekka, die Hadsch, zu den fünf Säulen des Glaubens. Jeder gläubige Muslim soll – sofern gesundheitlich und finanziell möglich – einmal im Leben diese Reise unternehmen.
Auch im Hinduismus spielt das Pilgern eine zentrale Rolle. Heilige Orte wie Varanasi am Ganges oder die vier sogenannten Char Dham („vier Sitze Gottes“) werden jährlich von Millionen Menschen besucht. In Japan begeben sich Pilger auf die 88-Tempel-Route auf der Insel Shikoku, ein Weg der Reinigung und Meditation.
Diese Vielfalt zeigt: Pilgern ist ein globales, spirituelles Phänomen – Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Sinn, Heilung und Nähe zum Göttlichen.
Der Unterschied zum Wandern
Was also unterscheidet das Pilgern vom Wandern?
# Die Intention: Wer wandert, will meist Natur erleben, abschalten, sich bewegen. Wer pilgert, sucht darüber hinaus etwas Tieferes – eine innere Reise, eine Begegnung mit Gott, mit sich selbst oder mit der Schöpfung.
# Der Weg als Ziel: Beim Pilgern steht nicht das Ziel im Vordergrund, sondern der Weg selbst – seine Herausforderungen, seine Begegnungen, seine Stille.
# Die Rituale: Pilger tragen oft ein Symbol (wie die Jakobsmuschel), sie beten, meditieren oder schweigen bewusst. Der Weg wird zur spirituellen Übung.
Einstimmung auf den Pilgerweg
Pilgern beginnt nicht erst mit dem ersten Schritt – es beginnt im Herzen. Eine gute Vorbereitung umfasst deshalb nicht nur die Ausrüstung, sondern auch das geistliche Einstimmen:
# Ein Motiv klären: Warum will ich pilgern? Was erhoffe ich mir?
# Sich geistlich vorbereiten: Vielleicht mit einem Reisesegen, einer Segensfeier oder einem geistlichen Impuls.
# Offenheit mitnehmen: Für das Unerwartete, für andere Menschen, für Gottes Reden auf dem Weg.
Pilgern heute – zwischen Tradition und Trend
Ob auf dem Jakobsweg, dem Lutherweg oder dem Hildegardweg – Pilgern erlebt heute eine Renaissance. Auch konfessionsungebundene Menschen entdecken das Pilgern als Form der Sinnsuche. Es verbindet Bewegung, Natur, Spiritualität – ein Dreiklang, der in unserer Zeit aktueller nicht sein könnte.
Dabei ist jeder Pilgerweg einzigartig. Er kann mit einem Lächeln, einer Träne, einem neuen Gedanken oder einer überraschenden Gottesbegegnung enden – und doch immer auch der Anfang eines neuen inneren Weges sein.
Impulse zum Weitergehen:
# Welche Wege gibt es in meiner Nähe, die sich für eine Pilgerwanderung eignen?
# Mit welchem Bibelwort möchte ich mich auf den Weg machen?
# Welche Fragen trage ich mit mir – und wohin möchte ich sie tragen?
HINWEIS: Pilger-Toolkit zum kostenlosen Download!